Zukünfte der Kirchenmusik

Bericht zum 9. Kirchenmusiktag des Zürcher Kirchenmusikverbands
7. Juni 2019, Kirchgemeinde Paulus

Köbi Steiner

Wie bei einem ausgelassenen Familientreffen stehen sie da. Es ist zwar noch nicht einmal 9 Uhr, die Diskussionen laufen jedoch auf Hochtouren. Hie und da wird gelacht, der Kaffee fliesst. Die neunte Ausgabe des Kirchenmusiktags des Zürcher Kirchenmusikverbands (ZKMV) lockt wieder einmal viele Kirchenmusiker*innen aus der Region in das Gemeindehaus der Pauluskirche; zunächst einmal, um sich auszutauschen.

Peter Freitag wirkt bei diesem Ereignis oftmals wie ein Hirte, der seine Schafe durch den Tag führt. In seiner Begrüssung wirft er zwei Fragen in den Saal: «Wie verhält man (der/die Kirchenmusiker*in) sich in den Kirchgemeinden und wie soll der Verband damit umgehen» und «Brauchen wir neue Musik?»
Erstere wird vor allem im persönlichen Gespräch diskutiert, wohingegen zweitere die folgenden Vorträge bestimmen sollte.

Bevor allerdings die Gedanken auf kirchenmusikalische Perspektiven gerichtet werden, kommt der Kulturmacher und Dozent an der ZHdK Basil Rogger zum Zug. In seinem Einführungsvortrag «Kulturzukünfte – Zukunftskulturen» zeigt er die Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Zukunft (historisch und im Jetzt) auf. Rogger vergegenwärtigt bildhaft einige Erkenntnisse, die aus der Beschäftigung mit dem Zukunftsbegriff hervorgehen. Zukunft hat Geschichte. Ein vor 50 Jahren visionäres U-Boot ist heute ein Wrack und das Jahrtausende währende Prinzip «Handeln, Hoffen, Bangen» weicht heute «No Future»-Sichtweisen. Andererseits erfuhr die Figur des «Neuen» einen geradezu umgekehrten Konnotationswandel. Zukunftsvorstellungen seien folglich sehr instabil. Zukunft hat Methode(n). Die Prognostik hat nichts mit einer Erforschung der Zukunft zu tun, sondern mehr mit einer unvorhersehbaren, pluralen und gestaltbaren Kulturtechnik (z.B. Wahrsagerei) und Herrschaftstechnologie (z.B. Leitbilder). Rogger postuliert, dass aus Prognostik eine Zukunftskultur werden müsse. Zukunft wird demokratisch und partizipativ gestaltet, was sie zu einem kulturellen Projekt mache. Sie sei zurückzuerobern und man solle über Ressourcen, Arbeitsformen, Inhalt und Publikum nachdenken. Zukunft beginne ausserdem nicht morgen, Rogger ermunterte die Anwesenden, sie heute in die Hand zu nehmen. Auf Nachfrage bezieht Basil Rogger schliesslich explizit Stellung zu vermeintlichen finanziellen Schwierigkeiten im Schweizer Kulturleben: Die Kultur habe in der Schweiz kein Finanzproblem, vielmehr gebe es für Verzicht keinen Platz. Das Éphémère solle eine Renaissance erleben dürfen.

«Stören wandernde Gedanken den freien Fluss der Orgelklänge? Eine EEG-Studie mit 20 Organistinnen und Organisten» lautet der Titel der Masterarbeit von Margrith Kramis Jordi. Die Kirchenmusikerin studierte am Psychologischen Institut der Universität Zürich und verband in ihrer Abschlussarbeit diese zwei Berufsfelder. Mit Folien voller Farben und überbordender Informationen erklärt sie den Weg der Studie – vom Aufbau bis hin zur Auswertung. Leider konnten letztlich wenig brauchbare Zusammenhänge festgestellt werden, die Studie sei jedoch einzigartig und noch nicht am Ende.

Als Pesche Brechbühler vor die Kirchenmusikerschar tritt, ändert sich die Stimmung schnell und es besteht keine Gefahr, schon ans Mittagessen zu denken. Der Auftritts- und Kommunikationstrainer lässt zuerst alle Anwesenden aufstehen, um ihnen sodann einen Einblick in die Theorie der sogenannten Statusspiele zu gewähren. Bei jeder Begegnung zweier Menschen ordne sich der eine dem anderen unter. Wir Menschen seien Profis im Spielen und Erkennen von Hoch- und Tiefstatus. Genau das haben auch die Kirchenmusiker*innen (nicht nur beim anfänglichen Experiment) am heutigen Tag erfahren.

Der Schweizer Komponist Ernst Hess war Mitte des 20. Jahrhunderts einer der Pioniere der Mozartforschung. Seine Tochter Susanne Hess stellte ihn und vor allem sein Werk in einem kurzen Vortrag vor. Zahlreiche Werke in unterschiedlichen Gattungen sind von Hess überliefert. Der Einblick in sein Leben könnte Anstoss sein, wenigstens seine Kirchenmusik wiederzubeleben.

Selbst singen dürfen die Teilnehmenden beim Offenen Singen mit Ernst Buscagne. Im Schnelldurchlauf zeigt der Kantor wie spielerisch einfach Mehrstimmigkeit, Kanonsingen und Choreographien mit einer vielfältigen Gruppe praktiziert werden kann. Es ist gerade die richtige Vorbereitung für das köstliche Mittagessen.

Zu jedem Kirchenmusiktag gehört auch ein konzertanter Programmpunkt. Diesen übernimmt der Organist und gelernte Jazzpianist Daniel Stickan. Seine Improvisationen kennzeichnen sich durch Minimalistik, welche sich meist in diatonisch begrenztem Rahmen bewegen. Solistische Ausbrüche der rechten Hand verleihen dem süsslichen Intermezzo den nötigen Biss.

Im späteren Interview mit Peter Freitag erklärt Stickan, er habe seine Heimat in der Kirche gefunden. Nun will er sein Handwerk (Jazz) in die sakrale Musik integrieren. Besonders in der Kinderchorarbeit ist er sehr engagiert, er komponiert regelmässig Kirchenmusik für Kinderchöre. In einem Artikel mit dem Titel «Mehr Mut zur Freiheit» hält Stickan Vielfalt für sehr wichtig und sieht dadurch nötige Konsequenzen in Ausbildung und Beruf. Um die Entstehung und Uraufführung von Orgelwerken zu fördern, sieht Stickan Handlungsbedarf in der Dialogsituation zwischen Organist*innen und Komponist*innen.

Die Sängerin Barbara Böhi setzt sich mit dem Problem der Alterung von Singstimmen auseinander. Mit diesem Problem sind Kirchenmusiker*innen in den meisten Chören konfrontiert. In ihrem Vortrag plädiert Böhi dafür, antike Stimmen zu restaurieren. Je älter eine Stimme ist, desto wichtiger sei die Auseinandersetzung mit ihr und die Pflege derselben. Längere Singpausen gefährden besonders im hohen Alter die Intaktheit des Stimmapparats. Bei mittleren Stimmen ergebe ein Stimmwechsel oft mehr Sinn als bei hohen. Zunächst solle dieser immer auf Probe vollzogen werden. Bei längerer Heiserkeit sei ein Arztbesuch unabdingbar. Um ebengenannten Problemen entgegenzuwirken bietet Böhi im SingStimmZentrum Zürich ausserdem zwei Angebote für Chorsänger*innen an: Singstimmen 50+ und Singen im Chor

Der Perkussionist Willy Kotoun bringt nun wieder Bewegung in die Runde. Die Kirchenmusiker*innen beissen sich am choreographierten Klassiker «Hindemith und Ravel» die Zähne aus, die meisten bringen es schliesslich jedoch zu einem beachtlichen Ergebnis.

Durchaus ernster geht es anschliessend bei Gabriela Schöbs Referat zu den Zusammenhängen zwischen dem Schweizer Schlager der 40-erjahre und der Geistigen Landesverteidigung zu: «s mues scho e biz mee dehinder sii» . Mit vielen Bildern erinnert die Kantorin an die patriotisch inszenierte Landesausstellung 1939. Die zu dieser Zeit entstandenen Schlager bilden die musikalische Sparte der damaligen Propaganda ab. Der Vortrag mag wohl kaum als Verbot oder gar Glorifizierung der – heute oftmals gewünschten – Volksschlager gelten, sondern vielmehr dazu animieren, die Entstehungsgeschichte eines Stücks Musik im Auge zu behalten.

Im Rahmen der Landesausstellung fanden allerdings auch Orgelkonzerte statt. Tobias Willi entdeckte ein Programmheft der 50 Konzerte, die damals in den verschiedenen Zürcher Kirchen stattfanden. An den verwendeten Instrumenten lasse sich gut die damalige Umbruchphase im Orgelbau erkennen. Was das Repertoire betrifft, setzten die Organist*innen auf Kulturwahrung und Kulturwerbung. Rund ein Fünftel der ausgewählten Werke entstammte der Feder lebender Komponisten, französische Musik wurde kaum gespielt. Die Annahme dieses Angebots in der Bevölkerung liess laut einem Bericht aber dennoch zu wünschen übrig.

Der Fokus der Schlussrunde lag auf neuer (Kirchen-)Musik. Kirchgänger kommen heutzutage oftmals ohne fixe musikalische Erwartung. Dieser Umstand solle genutzt werden, das Neue aber auch das für einige häufig unbekannte Alte vorzustellen. Sobald die Motivation in den Kirchgemeinden vorhanden sei, kann sich auch die (neue) Kirchenmusik entfalten.